Startschuss für das revidierte Erbrecht: Nun gilt es, Klarheit zu schaffen und Rechtsunsicherheiten zu vermeiden

Schweiz

Das fast hundertjährige Erbrecht wird geändert. Am Mittwoch hat der Nationalrat über die letzten Differenzen in der Revisionsvorlage entschieden, mit der heutigen parlamentarischen Schlussabstimmung ist die Erbrechtsreform verabschiedet worden. Die Inkraftsetzung des neuen Rechts wird auf den 1. Januar 2023 verschoben, damit die Bürgerinnen und Bürger genügend Zeit haben, um die notwendigen Anpassungen in ihren Nachlassplanungsdokumenten vorzunehmen.

Im Zentrum des neuen Erbrechts steht die Reduktion der Pflichtteile – aber nicht nur. Das sind die wichtigsten Änderungen für die Nachlassplanungspraxis:

1. Die Reduktion der Pflichtteile der Nachkommen und die Erhöhung der Verfügungsfreiheit

Die Pflichtteile der Nachkommen werden ab Inkrafttreten des neuen Rechts statt drei Viertel nur noch die Hälfte des gesetzlichen Erbanspruchs betragen; der Pflichtteil der Eltern wird gänzlich entfallen (Art. 470 Abs. 1 und Art. 471 E-ZGB). Damit kann die Erblasserin in Zukunft freier über ihr Vermögen verfügen und beispielsweise ihren Lebenspartner, gemeinnützige Institutionen oder ein Kind mit speziellen Bedürfnissen stärker begünstigen. Auch die Nachfolgeregelung bei Familienunternehmen wird dadurch deutlich erleichtert. Bei der Begünstigung von Dritten (z.B. Lebenspartner, Stiefkinder) sind jedoch nach wie vor die kantonalen Erbschafts- und Schenkungssteuern zu beachten. Nicht verändern wird sich der Pflichtteil des überlebenden Ehegatten oder der eingetragenen Partnerin.

Bei der letztwilligen Begünstigung des überlebenden Ehegatten mit einer Nutzniessung wird die verfügbare Quote um das Doppelte erhöht. Neu beträgt die verfügbare Quote neben der Nutzniessung die Hälfte statt einen Viertel (Art. 473 E-ZGB). Die Erblasserin kann dem überlebenden Ehemann damit letztwillig die Hälfte am Nachlass als Erbe zu Volleigentum und an der anderen Hälfte die Nutzniessung zuweisen. Das ermöglicht je nach der konkreten Vermögenssituation eine sehr weitgehende Begünstigung des überlebenden Ehegatten gegenüber den gemeinsamen Nachkommen.

2. Die erbrechtliche Behandlung der Ehegattenbegünstigung aus Ehevertrag

Beim Tod einer verheirateten Person geht die ehegüterrechtliche Auseinandersetzung des Vermögens der erbrechtlichen Teilung voran. In den Nachlass fällt nur dasjenige Vermögen, welches nicht bereits ehegüterrechtlich dem länger lebenden Ehegatten zukommt. Mit einem Ehevertrag können Ehegatten vereinbaren, dass nicht nur die gesetzlich vorgesehene Hälfte, sondern die ganze eheliche Errungenschaft dem länger lebenden Ehepartner zugewiesen wird (Art. 216 ZGB). Der Nachlass besteht damit nur noch aus dem erblasserischen Eigengut (in die Ehe eingebrachtes Vermögen oder während der Ehe geerbtes oder schenkungsweise erhaltenes Vermögen).

In der akademischen Lehre ist das Verhältnis zwischen Ehegüterrecht und Erbrecht und damit die erbrechtliche Behandlung der ehevertraglichen Begünstigung nach Art. 216 ZGB umstritten. Unklar ist, ob die überhälftige Begünstigung des überlebenden Ehegatten aus der Errungenschaft bei der Berechnung der erbrechtlichen Pflichtteile der gemeinsamen Nachkommen und des überlebenden Ehegatten zu berücksichtigen ist oder nicht. Der Gesetzesentwurf sah vor, dass die ehevertragliche Begünstigung bei der Berechnung der erbrechtlichen Pflichtteile berücksichtigt werden muss und wollte damit den Pflichtteilsschutz der gemeinsamen Nachkommen verbessern (Art. 216 Abs. 2 E-ZGB). Zum weiteren Schutz der Nachkommen wollte der Bundesrat überdies eine gesetzlich zwingende Wiederverheiratungsklausel einführen (Art. 216 Abs. 4 E-ZGB).

Dieser Revisionsvorschlag wurde von der Erbrechtspraxis, namentlich von den Autoren dieses Beitrags, kritisiert. Zum einen entspricht diese Behandlung der ehevertraglichen Begünstigung nicht dem in der Praxis vorherrschenden Bedürfnis der optimalen Begünstigung des überlebenden Ehegatten. Zum anderen würde die Nachlassabwicklung dadurch komplizierter und konfliktanfälliger werden, da für die Berechnung der Pflichtteile der gemeinsamen Nachkommen grundsätzlich stets eine umfassende ehegüterrechtliche Auseinandersetzung mit entsprechenden Verkehrswertschätzungen durchzuführen wäre. Eine gesetzlich zwingende Wiederverheiratungsklausel schliesslich wäre ein empfindlicher Eingriff in die Privatautonomie (interessierte Leserinnen und Leser finden den Link zu unserem Meinungsaustausch mit dem Bundesamt für Justiz am Endes dieses Beitrags).

Die Kritik aus der Praxis wurde vom Nationalrat in der Sommersession 2020 und sodann, nach einem langem Hin und Her im Differenzbereinigungsverfahren, auch vom Ständerat in der Wintersession 2020 aufgenommen. Gemäss der nun definitiv beschlossenen Änderung von Art. 216 Abs. 2 E-ZGB wird die überhälftige Begünstigung bei der Berechnung der erbrechtlichen Pflichtteile nicht berücksichtigt, mit Ausnahme bei der Berechnung der Pflichtteile der nichtgemeinsamen Nachkommen (Art. 216 Abs. 3 ZGB, unverändert). Das ist sehr erfreulich.

Bei der Auslegung der überhälftigen Vorschlagsbeteiligung wird damit Rechtsklarheit geschaffen, und zwar in einer Weise, wie es für die Bürgerinnen und Bürger auch nachvollziehbar ist. Zudem wird die Position des überlebenden Ehegatten gestärkt, was gerade auch im Hinblick auf die immer wichtiger werdende Altersvorsorge zu begrüssen ist. Konsequenterweise wurde die Wiederverheiratungsklausel gestrichen und bleibt damit Gegenstand individueller Vereinbarungen durch die Ehegatten, die dem jeweiligen Schutzbedürfnis des Ehegatten oder der gemeinsamen Nachkommen je nach der konkreten Lebens- und Vermögenssituation entsprechend Rechnung tragen können.

3. Verlust des Pflichtteilsanspruchs im hängigen Scheidungsverfahren

Sobald ein Scheidungsverfahren hängig ist, das auf gemeinsames Begehren oder nach zweijährigem Getrenntleben auf Klage hin eingeleitet worden ist, soll in Zukunft der Pflichtteilsschutz der Scheidungsgatten von Gesetzes wegen entfallen (Art. 472 E-ZGB). Jeder Scheidungsgatte kann damit dem anderen mit einem Testament den Pflichtteil entziehen, so dass dieser keine erbrechtlichen Ansprüche mehr geltend machen kann. Das Gesetz schafft somit im Scheidungsverfahren einen neuen Enterbungsgrund.

Der überlebende Scheidungsgatte verliert aber nicht nur seinen Pflichtteilsanspruch. Er kann auch keine Ansprüche aus Verfügungen von Todes wegen erheben, wenn ein Scheidungsverfahren hängig ist (Art. 120 E-ZGB). Bei Erbverträgen entfällt, vorbehältlich einer anderen Anordnung, somit automatisch auch die vertragliche Bindungswirkung.
Ziel des Gesetzgebers ist es, Anreize zur taktischen Verzögerung des Scheidungsverfahrens, um noch in den Genuss erbrechtlicher Ansprüche zu kommen, zu unterbinden. Das Missbrauchspotential im Scheidungsverfahren wird nun neu aber zu Lasten des finanzschwächeren Ehegatten gehen, wenn dieser nicht nur seine erbrechtlichen Ansprüche verliert, sondern auch aus Ehegüterrecht wenig erhält, weil z.B. wenig Errungenschaft vorhanden oder die Gütertrennung vereinbart worden ist. Lebensprägende Faktoren bleiben gänzlich unberücksichtigt.

4. Kurswechsel bei Erbverträgen: Von Schenkungsfreiheit zu Schenkungsverbot

Ein Erblasser kann sich durch einen Erbvertrag verpflichten, jemanden als Erben oder Vermächtnisnehmer einzusetzen (Art. 494 Abs. 1 ZGB). Nach der heutigen Rechtsprechung gilt, dass der Erblasser auch nach Abschluss des Erbvertrags grundsätzlich zu Lebzeiten frei bleibt, über sein Vermögen mittels Schenkungen zu verfügen. Diese grundsätzliche lebzeitige Verfügungsfreiheit gilt nicht, wenn der Erbvertrag einen entsprechenden Vorbehalt enthält oder wenn der Erbvertragsgläubiger im Prozess den Beweis erbringen kann, dass der Erblasser ihn durch die spätere Schenkung offensichtlich schädigen wollte (BGE 140 III 193).

Die strenge Rechtsprechung des Bundesgerichts stiess in der Lehre auf Kritik, und das revidierte Gesetz wird die Rechtsprechung korrigieren: Neu kann der durch Erbvertrag eingesetzte Erbe Zuwendungen unter Lebenden, die über Gelegenheitsgeschenke hinausgehen, grundsätzlich anfechten, wenn seine erbvertraglichen Ansprüche geschmälert und lebzeitige Zuwendungen im Erbvertrag nicht vorbehalten wurden (Art. 494 Abs. 3 E-ZGB).

Der Kurswechsel ist für künftige Nachlassplanungen unproblematisch. Möchte die Erblasserin über ihr Vermögen zu Lebzeiten trotz Erbvertrag verfügen können, sind entsprechende Vorbehalte im Erbvertrag vorzusehen. Da das neue Recht aber auch auf bestehende Erbverträge anwendbar sein wird, werden sich bei der Auslegung bestehender Erbverträge Rechtsunsicherheiten ergeben, wenn die erbvertraglichen Bestimmungen keine klaren Vorbehalte enthalten.

5. Klarstellung bei der Herabsetzungsreihenfolge und bei der gebundenen Selbstvorsorge 3a

Nach geltendem Recht kann eine Person, die nicht dem Werte nach ihren Pflichtteil erhält, die Herabsetzung der Verfügungen von Todes wegen und bestimmter Zuwendungen unter Lebenden verlangen, und zwar in der Reihenfolge gemäss Artikel 532 ZGB. Aufgrund der bestehenden Formulierung ist unklar, ob auch das gesetzliche Erbrecht (Intestaterbrecht) herabgesetzt werden kann und ob die übergesetzliche Begünstigung des überlebenden Ehegatten aus Ehevertrag eine Verfügung von Todes wegen oder eine Zuwendung unter Lebenden ist. Das Gesetz klärt diese Rechtsunsicherheiten: Das Intestaterbrecht unterliegt der Herabsetzung und zwar als Erstes, und die Zuwendung aus Ehevertrag ist eine Zuwendung unter Lebenden, die vor den übrigen lebzeitigen Zuwendungen herabgesetzt wird (Art. 532 E-ZGB).

Eine weitere Rechtsunsicherheit wird bei der Behandlung der Leistungen aus der gebundenen Selbstvorsorge 3a geklärt: Neu sollen alle Begünstigten unabhängig von der Vorsorgeform (Banksparen oder Versicherung) einen eigenen und direkten Anspruch gegenüber der Bank oder der Versicherung haben (Art. 82 E-BVG). Die Leistungen aus der Säule 3a gehören damit nicht zur Erbmasse, werden aber für die Berechnung der Pflichtteile berücksichtigt, bei Versicherungslösungen mit dem Rückkaufswert und beim Banksparen mit dem entsprechenden Kapital (Art. 476 und Art. 529 E-ZGB).

6. Klarheit schaffen und Rechtsunsicherheiten vermeiden

Das neue Recht wird voraussichtlich am 1. Januar 2023 in Kraft treten, und es wird auch für heute schon bestehende Testamente und Erbverträge gelten, wenn die Erblasserin nach dem Inkrafttreten des neuen Rechts verstirbt (Art. 16 Abs. 3 SchlT ZGB). Die Bestimmungen des neuen Rechts sind also in der heutigen Planung zu berücksichtigen und einzubeziehen.

Wer über seinen Nachlass bereits letztwillig verfügt hat, hat dies auf der Basis des geltenden Erbrechts getan. Bestehende Nachlassplanungen müssen im Hinblick auf das neue Recht überprüft werden. Es gilt, Klarheit zu schaffen und Rechtsunsicherheiten in Bezug auf die Auslegung bestehender Testamente und Verträge zu vermeiden; denn Rechtsunsicherheiten führen zu Konflikten, die oft langwierig und belastend sein können.

Weiterführende Links

Schlussabstimmungstext ZGB (Erbrecht): Änderungen vom 18. Dezember 2020

Gesetzesentwurf vom 29. August 2018

Kritik zur Revision von Art. 216 E-ZGB und Art. 472 E-ZGB (Meinungsaustausch)

Beschlossene Änderungen gemäss Differenzbereinigungsverfahren zu Art. 472 E-ZGB

Beschlossene Änderungen gemäss Differenzbereinigungsverfahren zu Art. 216 E-ZGB